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Ich habe meine Tinder-Daten ausgewertet und will ein besserer Mann werden

Die Auswertung meiner Swipes und Matches zeigt: Ich war alles andere als nett.

Ich bin kein Arsch auf Tinder, davon war ich lange überzeugt. Ich habe nie Dick-Pics verschickt, meine Anfragen waren meist höflich und Chatnachrichten wie "Ficken?" waren für mich tabu. Ich habe echte Beziehungen auf Tinder gefunden und die App vor meinen Freunden verteidigt. Ich bin einer von den Guten, dachte ich, bis ich mir meine über vier Jahre gesammelten Tinder-Daten angeschaut habe.

Dass ich meine Daten überhaupt bekommen habe, verdanke ich den neuen EU-Gesetzen zum Datenschutz, der DSGVO. Demnach müssen Firmen herausgeben, was sie über ihre Nutzenden sammeln und speichern. Besonders einfach macht es Tinder einem aber nicht. In meinem Tinderprofil war dazu nichts zu finden, der Link zur Datenabfrage versteckte sich schließlich im letzten Drittel der Datenschutzrichtlinien. Falls ich meine Daten überprüfen möchte, solle ich doch dort klicken.

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Knapp drei Tage vergingen, bis ich endlich eine E-Mail mit einem Downloadlink zu meinen Daten bekam. Ich stellte mich auf einen riesigen Ordner ein, doch es waren nur 284 KB. Mein Datingleben bei Tinder, immerhin 4 Jahre, braucht weniger Speicherplatz als ein Foto meiner Smartphone-Kamera.

Meine Daten schickt mir Tinder in einer html-Datei, die sich in meinem Browser als simpel gehaltene Seite öffnet. Was mir als erstes auffällt: In den über Hundert gespeicherten Chatverläufen kann ich nur meine eigenen Nachrichten anschauen – und das ist verdammt merkwürdig. Als würde man ein Telefongespräch belauschen und nur eine Person hören.

Ich: Wann bist du das letzte Mal vom Fahrrad gefallen?
Sie:
Ich: Ohh super. Da will man eine witzige Frage stellen und stößt auf nen Motorradunfall. War es schlimm??
Sie:
Ich: Ich bin letztes Jahr nur einmal in Straßenbahnschienen gekommen!

Heute, Jahre danach, habe ich das Gefühl in meinen Tindergesprächen nicht ich selbst gewesen zu sein. Außerdem bin ich schreibfauler, als ich dachte: Die meisten Matches habe ich nie kontaktiert. Je mehr Daten ich mir anschaue, desto weniger gefalle ich mir. Ich übersetze meine Daten in Diagramme, um meine persönlichen Lehren aus vier Jahren Online-Dating zu ziehen.

Next! Tinder hat mich gleichgültig gemacht

Am 3. April 2015 wische ich 483 Mal. Ich versuche mich an die Namen der Nutzerinnen zu erinnern, denn die schickt mir Tinder nicht mit. Pauline?, Hanna?, Gülcan?, es ist zu lange her. Bei Hunderten Swipes an einem Tag werden die Menschen dahinter austauschbar und ich werde gleichgültig. So sehr, dass ich an diesem Tag nur 15 Mal ein Like gebe. Es kommt zu keinem Match.

Meine Bilanz aus vier Jahren Tinder-Swipes
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Die Tinder-Skeptiker unter meinen Freunden haben mir oft gesagt, auf Tinder werde ja nur auf Masse geswipt. Ich hatte das nicht so empfunden, und ich hatte auch nicht den Eindruck, mechanisch Hunderte Frauen zu swipen. Aber Irrtum: Ich war Teil des Systems. Offenbar ist meine Tindergeschichte von massivem Desinteresse an Hunderten Menschen geprägt. Auf einer Party wäre ich niemals an 400 Personen vorbeigelaufen, bis ich der ersten Hallo sage.

Meine Tindergeschichte ist auch deutlich weniger erfolgreich, als ich mir gesagt habe. Ich habe Zehntausende Menschen – oder besser Profile – weggewischt und war bestimmt selbst für Tausende Menschen zu langweilig. Schlimm fand ich das nie, ein schlechtes Gewissen beim Tindern hatte ich auch nicht. Es gab ja ständig Nachschub.

Insgesamt habe ich mich in vier Jahren durch eine mittelgroße Stadt gewischt. 30.579 Swipes, in etwa so viele Einwohner hat Neuruppin in Brandenburg. Nur aus 1,12 Prozent dieser Swipes wurde ein Match. Heute habe ich nur noch mit zwei Tinder-Nutzerinnen Kontakt. An die meisten anderen kann ich mich nicht erinnern, selbst wenn ich mich anstrenge.

Wie Candy Crush: Ich habe aus Langeweile getindert

Forschende der Universität Amsterdam haben im Jahr 2017 eine kleine, dreistellige Zahl an Menschen gefragt, warum sie Tinder nutzen. Zu den häufigsten Antworten gehörten unter anderem die Suche nach Liebe und Gelegenheitssex. Bei mir war das anders, das zeigen meine Daten: Ich habe eindeutig aus Langeweile getindert. Wenn ich mich erinnere, zu welchen Gelegenheiten ich die App aufgemacht habe, insgesamt 1.937 Mal, dann war das auf dem Klo, vorm Schlafengehen, heimlich im Bus, selten am Schreibtisch.

Tinder-Statistiken
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Tindern war für mich der Ersatz für die Zeitschrift auf dem Klo oder das stupide Handyspiel. Mal rechts wischen, mal links wischen, und ab und zu eine Sekunde Selbstzufriedenheit, wenn es hieß: "It's a Match" und ich wusste: Da findet mich jemand gut genug, um einen wertvollen Swipe zu vergeben – immerhin hatte man nur eine begrenzte Anzahl pro Tag. Dabei gab es Tage, manchmal Wochen, in denen ich Tinder gar nicht aufgemacht habe. Das waren Zeiten, in denen ich viel zu tun hatte.

Um das mithilfe meiner Tinder-Daten zu belegen, habe ich mir zwei Wochen von März bis April 2019 genauer angeschaut und mit meinem Kalender abgeglichen. In dem Zeitraum habe ich zuerst sehr viel gearbeitet, dann sehr wenig. Insgesamt habe ich in dieser Zeit 1.143 Mal geswipt und die App 85 Mal geöffnet. Die Zahlen zeigen: Wenn ich viel zu tun hatte, habe ich wenig getindert; wenn ich Freizeit hatte, sehr viel.

An einem Dienstag im April war mein Kalender leer – und ich habe Tinder an diesem Tag ganze 26 Mal geöffnet. Auch meine Swipes zeigen, dass ich Langeweile mit Tinder bekämpft habe. An Tagen mit Freizeit habe ich im Durchschnitt 144 mal geswipt, an Tagen mit Arbeit nur rund 8 Mal.

Ego-Push: Ich habe Matches wie Trophäen gesammelt

Im Jahr 2017 hat der Entwickler Tristan Harris im Guardian die Timeline von Facebook mit einem Glücksspielautomaten verglichen. "Du weißt nicht, was als nächstes kommt. Manchmal ist es ein schönes Fotos, manchmal nur eine Werbeanzeige". Bei Tinder ist es ähnlich. Mich erinnert es an ein Glücksspiel mit einfachen Regeln: Der Einsatz sind Swipes nach Rechts, der Gewinn ist ein Match. Hinter jedem Profil könnte ein neues Match stecken, ein neuer Gewinn. Meistens kommt es aber nicht zum Match, also swipen wir weiter.

Was wurde aus meinen Tinder-Matches?
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Für mich waren Matches eine Bestätigung fürs Ego, und sei sie noch so klein. Ich habe diese Bestätigungen begierig gesammelt. Oft hat das bloße Match schon ausgereicht, um mir ein gutes Gefühl zu geben. Meine Tinder-Daten zeigen: In den meisten Fällen war ich allein damit schon zufrieden. In den meisten Fällen habe ich nicht einmal das Chatfenster geöffnet und "Hi" geschrieben. Wenn es dann doch zu Gesprächen kam, habe ich meist nicht mehr als drei Nachrichten verschickt. Und nur ein kleiner Bruchteil der Matches führte zu realen Treffen: 12.

Ich weiß nicht, ob der Vergleich zwischen Tinder und einem Spielautomaten wissenschaftlich wasserdicht ist. Klar ist aber: Ich habe Matches häufig einfach nur gesammelt wie Trophäen in einem Handyspiel. Ich habe lange genug World of Warcraft gespielt, um zu wissen, dass mich das auf Dauer nicht weiter bringt.

Ghosting: Ich habe Tinder-Matches eiskalt ignoriert

Ich kann mir heute nicht erklären, warum ich Tinder-Match 33 nie getroffen habe. In meinen Tinder-Daten gibt es zu dem Match keinen Namen. Das Gespräch handelte vom Job (vorhanden), von Haustieren (nicht vorhanden) und von Kaffee (gerne!). Und das war's.

Ich schaue mir weitere Chatverläufe an und versuche, die Gespräche zu rekonstruieren. In den Chatverläufen spreche ich von Treffen in Bars, gemeinsamen Mittagessen, Zoobesuchen. Nie ist daraus wirklich ein Treffen geworden – weil die Gespräche irgendwann vorbei waren.

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Was aus dem Kontakt mit meinen Tinder-Matches geworden ist

Ich zähle nach und komme zu einem unangenehmen Ergebnis: Insgesamt habe ich mit 107 Frauen geschrieben. Mehr als die Hälfte davon, 66, habe ich irgendwann geghostet und einfach nicht mehr geantwortet. Deutlich seltener, nämlich 33 Mal, war es die Gegenseite, die entschied, mir nicht mehr zu schreiben. Eine gegenseitige Verabschiedung gab es nur sechs Mal. Nur mit zweien haben ich immer noch Kontakt.


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Ich habe die meisten der 66 Matches nicht mit Absicht ignoriert. Eine Frau namens S. hat mich mehrfach gefragt, ob wir uns treffen wollen. Meine Antwort: "Bin leider etwas im Stress zurzeit." Es folgten drei weitere Anfragen und drei halbherzige Ausreden. Familie, Freunde, personal life. Offenbar fand ich alles andere zu dem Zeitpunkt interessanter als ein Treffen mit S. Dabei hatten wir so nett über Emojis in Familienchats geschrieben und über ihren gescheiterten Versuch, einen Flashmob zu organisieren. Heute sehe ich, ich hätte mich einfach viel öfter trauen sollen, zu schreiben: "Du, das mit uns passt einfach nicht."

Für mich hat Tinder viele Jahre lang funktioniert. Nicht nur ich, sondern auch andere Menschen haben dort Bestätigung, Sex und Beziehungen gefunden. Für mich ist nun aber Schluss mit Tinder. Die Analyse meiner Daten hat mir gezeigt, dass ich mich selbst auf Tinder nicht mag. Ich reagiere zu leicht auf die kleinen Belohnungen, sehe zu selten den Menschen hinter dem Profil. Selbst wenn ich kein Tinder-Arsch war, möchte ich auch beim Daten lieber der Mensch sein, der ich – glaube ich zumindest – auch in der echten Welt bin.

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