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Dokumentation

Die interaktive Web-Doku „Points of View“ gibt einen Einblick in den Lebensalltag von Palästinensern

Künstlerin Zohar Kfir hat in Zusammenarbeit mit der israelischen NGO B'Tselem ein Online-Archiv auf die Beine gestellt, das die ungefilterte Realität in Gaza, Jerusalem und dem Westjordanland sichtbar macht.

Fotos: Points of View

Nach den Medienberichterstattungen der letzten Wochen über die Gewalt im Gazastreifen fühlte sich Künstlerin Zohar Kfir etwas desorientiert. „Die Medien erzählen alle von unterschiedlichen Realitäten. Es ist wichtig, die Leute, die dort leben, als Zeugen zu haben.“ Diese direkte Perspektive der Einheimischen nimmt Kfirs jüngstes Projekt Points of View ein. Die fortlaufende, interaktive Web-Dokumentation sammelt von Palästinensern vor Ort gedrehtes Videomaterial, das im Rahmen des Camera Distribution Project der israelischen NGO B'Tselem entstand.

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Hinter dem Kürzel B'Tselem verbirgt sich das Israeli Information Center for Human Rights in the Occupied Territories, eine 1989 gegründete Nichtregierungsorganisation. Ihr Ziel ist es, Menschenrechtsverletzungen in den israelisch besetzten Gebieten nachzuweisen–unabhängig davon, wer sie begangen hat.

Als Kfir 2008 in Jerusalem das Hauptquartier von B'Tselem besuchte, fand sie dort stapelweise Videomaterial, das der NGO von Freiwilligen zugesandt worden war. Knapp ein Jahr zuvor hatte das Team von B'Tselem Videokameras an Palästinenser im Gazastreifen, Ost-Jerusalem und dem Westjordanland verteilt und ihnen anschließend beigebracht, zu drehen. Ziel des Projekts war es, Freiwillige zu befähigen, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und nachzuweisen, die sonst nicht entlarvt worden wären. Die Teilnehmer wurden extra angewiesen, ohne Pause aufzunehmen, so dass Zeitstempel beweisen konnten, dass das Material nicht manipuliert worden war. Neben diesem Beweismaterial erhoffte sich B'Tselem außerdem, Eindrücke des täglichen Lebens aus den Krisengebieten zu erhalten. Als Kfir sich die Aufnahmen ansah, war sie vom ersten Moment an wie gelähmt.

Trotzdem wollten sie und B'Tselem kein Projekt aufbauen, das sich ausschließlich auf Bilder der Gewalt konzentriert. Sie sahen eine Chance, die „menschliche Seite“ des Konflikts zu zeigen. Eine Seite, die in den Mainstream-Medien allzu selten Platz findet. „Mit den Kameras kannst du zurückschießen“, so Kfir. „Sie sind ein Mittel der Selbstverteidigung.“ Natürlich ist in einer Umgebung, in der Gewalt zum Alltag gehört, diese auch vor der Kamera präsent. In einer Reihe von Fällen wurde das Material sogar als Beweismittel in Gerichtsprozessen verwendet, wie zum Beispiel die Videoclips von einigen Journalismus-Studenten aus Gaza, die ihr Leben nach der Operation Cast Lead, einem dreiwöchigen Konflikt zwischen palästinensischen Milizen und Israel im Dezember 2008, filmten. Das Material von Points of View reicht von Clips über die Hip-Hop-Gruppe der Palestinian Rappersz, die im GazaKonflikt ihren Vater verloren über Einblicke in ein Internetcafe, in dem palästinensische Jugendliche mitten im Krieg Counterstrike spielen bis zu Aufnahmen von israelischen Soldaten, die einen palästinensischen Jungen auf der Straße aufgreifen und treten.

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Kfir stellt den Nutzern von Points of View eine 3D-Karte von Israel bereit, auf der jede Video-Location durch einen bunten Punkt markiert ist. „Ich wollte den Leute eine Vorstellung von der Anatomie Israels geben und sie aktiv entscheiden lassen, welchen Ort sie besuchen wollten“. So die Künstlerin. Die Punkte auf der Karte sind mit weiteren Punkten, also Orten bzw. Videos, verknüpft, und der Besucher kann diesen Pfaden folgen.

Kfir möchte dabei eine Dokumentation von Dauer schaffen. „Ich mache ein Archiv des Archivs von B'Tselem“, erklärt Kfir. Sie steckte dafür in Zusammenarbeit mit dem Studio für Daten-Visualisierung FFunction viel Energie in den Ausbau von Backend und Content Management System von Points of View. Es sollte ein nachhaltiges Tool geschaffen werden, das B'Tselem auch in Zukunft verwenden könnte. User können ein geogetaggtes Video hochladen, das dann durch eine einfache Umwandlung auf der Karte visualisiert wird.

Obwohl die jüngsten Ereignisse die Produktion und das Kuratieren von Videos verlangsamt haben, ist Kfir zuversichtlich, in Zukunft weitere Geschichten veröffentlichen zu können. Benutzer sollen Points of View als lebendiges Dokument weiter eigenständig mit Inhalten füllen.

Points of View ist Kfris erstes Experiment im Bereich transmediales Erzählen. Der Aufbau einer interaktiven Online-Plattform war dabei entscheidend. Wie Kfir erklärt, wollte sie das Material auf der ganzen Welt zugänglich machen und das rund um die Uhr. „Normalerweise drückt man Play und sieht etwas, das der Regisseur mit einem Schlusspunkt gemacht hat. Ich wollte das nicht. Ich wollte die Narrative untereinander aufbrechen.“

Als Künstlerin denkt sie stets daran, die Wahrheit im Gleichgewicht zu halten. „Redaktionelle Entscheidungen würden dazu führen, eine Wirklichkeit der anderen gegenüber vorzuziehen.“ Auch wenn Kfir zugibt, dass sie sich durch die Auswahl bestimmter Videos aus dem Fundus von B'Tselem natürlich automatisch für eine spezifische Realität entscheiden muss, ist gerade dieser Aspekt der Grund, warum sie transmediales Erzählen für das perfekte Medium hält. „Jeder hat eine Meinung zum Mittleren Osten. Mit diesem Projekt, das auf einer Landkarte basiert, können die Leute ihn aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Sie haben die Freiheit, ihr eigenes Verständnis zu entwickeln und ihre Schlüsse zu ziehen.“

>> Folgt dem Projekt Points of View auf Twitter: @pointsofviewdoc