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Kunst

Was diese Künstlerin mit Narben macht, ist wunderschön

Hélène Gugenheim macht Körper zu ihrer Leinwand und Verletzlichkeit zur Sprache.

Hélène Gugenheim, „Mes cicatrices Je suis d’elles, entièrement tissé.", Marie, 13. Mai 2015. Foto: Aurélien Mole. Vergoldung: Manuela Paul-Cavallier

Wenn Körper Geschichten erzählen können, dann sind Narben die Worte. Wenn ich meinen eigenen Körper betrachte, dann lese ich einen sechs Zentimeter langen, verheilten Schnitt über meinem rechten Schulterblatt, der die Geschichte eines bedauernswerten Tattoos zeigt, das ich mir mit einer verflossenen Liebe in Amsterdam stechen ließ. Ein runder, weißer Punkt auf meinem rechten Unterarm erzählt die Geschichte meines 16-Jährigen, betrunkenen Ichs, das eine brennende Zigarette an den eigenen Arm hält. Wir verbringen unser ganzes Leben in unserer Haut; wir können sie nicht abstreifen oder gegen eine andere eintauschen. Narben sind die Zeichen für ein andauerndes Leben. Vor ungefähr eineinhalb Jahren traf die Künstlerin Hélène Gugenheim Marie. Die zwei Frauen zogen sich nebeneinander um und Hélène erblickte Maries Narbe von einer Brustamputation: Dort wo Maries linke Brust sein sollte, überzog eine Narbe ihren Brustkorb. Als sie diese sah, dachte Hélène sofort: „Ich muss Gold darauf auftragen.“ Und so war das Projekt Mes cicatrices, Je suis entièrment tissé (Meine Narben, ich bin vollkommen daraus gewoben) geboren. Das Projekt dokumentiert anhand von Fotos und Videos die rituelle Auftragung von Blattgold auf Narben, mit einem von der Künstlerin selbst entwickelten Protokoll.

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Beispiel für eine Schale nach Kintsugi-Technik, Foto: Wikimedia Commons

Gugenheim ust Absolventin der École du Louvre—wo vor ihr bereits Berühmtheiten wie Louise Bourgeois und Agnès Varda studiert haben—und hat Abschlüsse in Geschichte, zeitgenössischer Kunst (1999) und Museologie (2000). Anschließend hat sie jahrelang als Journalistin beim französischen Magazin Crafts gearbeitet und die verschiedensten handwerklichen Fertigungsmethoden, Materialien und Geschichten kennen gelernt. So hat sie auch kintsugi entdeckt. Kintsugi, oder auch kintsukoroi, ist eine japanische Methode, zerbrochene Keramik wieder zusammenzusetzen und bedeutet wortwörtlich „goldene Verbindung“ oder „mit Gold reparieren“. Eine Mischung aus Gold und Lack oder Kleber wird in die Risse eines Gegenstände gegeben, um die Bruchstücke wieder zu vereinen. Das kaputte Objekt wird transformiert, funktioniert wieder. Sowohl die Bruchstellen als auch die Reparatur werden visuell hervorgehoben und Mängel werden zu Vorzügen.

Die Bemalung von Maries Narbe, 13. Mai 2015. Foto: Aurélien Mole. Vergoldung: Manuela Paul-Cavallier

Gugenheim, die mit der Kintsugi-Methode bereits vertraut und persönlich davon inspiriert war, wusste sofort, was zu tun war, als sie Maries Narbe sah. Über Skype erklärte die Künstlerin gegenüber The Creators Project: „Als ich Maries Narbe sah, sah ich eine Mischung aus Kraft und Fragilität. Es war großartig. Ich sah nicht nur die Verletzung sondern auch die Heilung. Irgendwann wird jeder verletzt: auf der Haut, manchmal im Herzen. Du musst damit weiter machen. Und du kannst nicht genauso weiter machen wie vorher. Du musst einen neuen Weg schaffen, um weiter zu machen.“ Der Titel des Projekts stammt aus einem Satz aus Gugenheims Roman Nights, the Night Gapard Editions, aus dem Jahr 2014. Sie erzählt zwar, dass sie nie daran gedacht habe, ein solches Projekt über Narben zu verwirklichen, als sie die Zeile schrieb; trotzdem schlummerte die Idee von Narben, die Geschichten erzählen, bereits in ihr. Gugenheim hat ein spezielles Protokoll für die rituelle Auftragung von Gold auf Narben entwickelt. Da das Gold nicht für immer auf dem Körper verbleiben kann, beinhaltet das Ritual die Auftragung und Entfernung von Gold auf und von der Haut. Das Protokoll besagt, dass ein Teilnehmer Gugenheims Studio betritt, sich vollständig entkleidet und einem „Vergolder“ erlaubt, Blattgold auf seine oder ihre Narbe(n) aufzutragen. Sobald das Gold aufgetragen wurde, tritt der Vergolder in den Hintergrund. Hélène bittet die Teilnehmerin, sich auszuruhen und zu atmen, sich Zeit zu nehmen, um zu tun, was auch immer sie will: „schlafen, weinen, singen, nichts tun, egal wie lang.“ Wenn die Person fertig ist, gibt sie dem Vergolder ein Signal, das Gold zu entfernen. Sie zieht sich wieder an und Hélène und der Vergolder kratzen das Gold in ein Fläschchen mit dem Namen der Teilnehmerin und dem Datum darauf. Die Teilnehmerin erhält das Fläschchen und das gesamte Vorgehen wird auf Film und mit Fotos festgehalten.

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Hélène Gugenheim, „Mes cicatrices Je suis d’elles, entièrement tissé.", Olivier, 15. September 2015. Foto: Florent Mulot. Vergoldung: Louise Dumont

Gugenheim betont: „Der wichtige Teil ist, wenn ich ihr das Fläschchen übergebe, damit sie sehen kann, dass die Narbe eine kostbare Sache ist, aufgrund der Heilung.“ Nachdem Gugenheim das Video der ersten Performance mit Marie veröffentlichte, bekam die Künstlerin E-Mails von Leuten, die sie nicht kannte, die ihr von ihren Narben erzählten und darum baten, teilnehmen zu dürfen. Sie war bewegt. So kam auch der Kontakt zum zweiten Teilnehmer des Projekts zustande: Olivier. Er kam mit einem großen Blutschwamm über dem Gesicht auf die Welt kam, was ihn dazu zwang, sich diversen Hauttransplantationen zu unterziehen. Jedes Element von Mes cicatrices, Je suis entièrment tissé wird sorgsam persönlich ausgewählt. Die Vergolder sind handverlesen, damit sie zum Teilnehmer passen. Das Studio, in dem die Performance stattfindet, war vor 30 Jahren eine Werkstatt für Glasmalerei und befindet sich im 6. Arrondissement von Paris. Die Besonderheit des Ortes trägt zu den vielschichtigen Wahrnehmungen der Transformation in der Arbeit bei. Das Protokoll selbst bezieht sich stark auf japanische Zen-Buddha-Philosophie und die Struktur japanischer Tee-Zeremonien, indem es besonders die spartanische Leere und ritualisiertes Verhalten betont.

Olivier, 15. September 2015. Foto: Florent Mulot. Vergoldung: Louise Dumont

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Gugenheim möchte, dass das Projekt in zehn dokumentierte Performances mündet. Halb flüsternd sagt sie zu mir: „Das Ziel ist, dass die Leute sich die Fotos und Videos ansehen und sie wie einen Spiegel betrachten. Du fragst dich selbst: ‚Wo sind meine Narben? Wie erneuere ich mich, innerlich und äußerlich?‘“ Die Künstlerin ist gerade auf der Suche nach Partnern und Sponsoren, um eine Ausstellung namens My scars, of them I am fully woven auf die Beine zu stellen, für die sie verschiedenste Teilnehmer—Filmemacher, Fotografen, Vergolder usw.—gewinnen will, und deren Organisation aufgrund der stets individuellen Kunstwerke Zeit benötigt. Gugenheim ist offen dafür, ihre Ideen mit interessierten Performern zusammen zu entwickeln, und zielt darauf ab, dass jede Performance zu einem Kurzfilm wird. Jeder, der Interesse daran hat, teilzunehmen, ist dazu aufgerufen, die Künstlerin per Mail zu kontaktieren. Unsere Unterhaltung endet damit, dass Gugenheim anerkennt: „Jeder hat einen Körper, jeder wird verletzt und jeder heilt. Die Narbe ist das Zeichen unserer Menschlichkeit.“ So verletzlich und poetisch dient ihr Projekt als Erinnerung daran, dass wir alle mit unseren Wunden—emotional oder körperlich—weiter machen und Wege finden müssen, um uns zu regenerieren, und um zu heilen.

Olivier, 15. September 2015. Foto: Florent Mulot. Vergoldung: Louise Dumont

Olivier entkleidet sich im Studio. 15. September 2015. Foto: Florent Mulot. Vergoldung: Louise Dumont

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Olivier, 15. September 2015. Foto: Florent Mulot. Vergoldung: Louise Dumont

Mes cicatrices Je suis d'elles, entièrement tissé - Marie from Hélène Gugenheim on Vimeo.

Klick hier) für Oliviers Protokoll.

Mehr über die Künstlerin erfährst du hier.