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Was passiert, wenn ein sechs Jahre altes Straßenkunstwerk viral geht

Der französische Künstler, der „schlechte Graffitis lesbar gemacht hat“, ist in Wirklichkeit ein großer Fan von Graffitis.
Mathieu Tremblins Tag Clouds (2010). Alle Bilder mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

Wir leben in einer Zeit  der schier endlosen Design-Blogs. Während unseres allmorgendlichen Arbeitsweges buhlen sie mit leicht verdaulichen, wiederverwerteten Bildern um unsere Aufmerksamkeit. Fakten und Tatsachen müssen sich da hinten anstellen, was Likes und Shares angeht. Der französische Künstler und Aktivist Mathieu Tremblin musste diese Wahrheit auf die harte Tour am Beispiel seiner eigenen Kunst erfahren. Als die Fotos seines Straßen-Kunstwerks Tag Clouds viral gingen, wurde er plötzlich überall im Internet für seine vermeintlich raffinierte Übersetzung hässlicher und unlesbarer Graffiti-Tags in lesbaren Text gepriesen.

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Das Problem daran ist, dass die Blogger Tremblins Absichten komplett falsch interpretierten  — mit Tag Clouds wollte er nämlich eigentlich dem fast in Vergessenheit geratenen Internet-Phänomen der Schlagwortwolken huldigen. Das Umschreiben von Graffiti-Tags war also eher Zufall.

Tremblin verlor sehr schnell den Überblick darüber, wie seine Tag Clouds interpretiert und wo sie geteilt wurden. „Nach etlichen schlechten Artikeln und sinnlosen Kommentaren, die ich online über mein Kunstwerk gelesen habe, hat es einen Augenblick gedauert, bis ich meine Gedanken sortiert hatte“, erzählt er The Creators Project. Wir haben uns mit dem Künstler unterhalten und wollten erfahren, wie es sich anfühlt, wenn das eigene Kunstwerk aufs Clickbaiting reduziert wird.

The Creators Project: Tag Clouds ist erst diesen Monat viral gegangen—das Projekt ist aber schon sechs Jahre alt. Warum glaubst du, ist es immer noch aktuell?

Mathieu Tremblin: Ganz im Gegenteil, mir ist klar geworden, dass die Tag Clouds längst nicht mehr so viel Bedeutung haben wie 2010, als ich damit begonnen habe. Die ursprüngliche Idee war aus dem Bewusstsein entstanden, dass durch den weit verbreiteten Zugang zum Internet zu Beginn der 2000er Jahre viele Straßenkünstler, die fernab der europäischen Großstädte wohnten, die Möglichkeit hatten, ihre Kunst auf selbstgemachten Websites und CMS Blogs zu teilen, die sich sehr häufig Schlagwortwolken bedienten… nun aber konsumieren wir Kunst hauptsächlich über soziale Netzwerke, Likes und Shares.

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Und die Schlagwortwolken sieht man eigentlich kaum noch auf Websites.

Im Jahr 2000 haben wir ein Kunstwerk zuerst „in echt“ gesehen und es dann digital verbreitet. Jetzt erfahren wir meistens erst online von Graffitis, bevor wir sie dann vielleicht auch im echten Leben zu Gesicht bekommen. In Tag Clouds ging es ursprünglich um das Gleichgewicht zwischen der Erfahrung der Graffiti-Tags im Internet und im echten Leben…bis etwa 2010 waren Schlagwortwolken noch eine der vorherrschenden Methoden, um Inhalten auf Websites und Blogs eine persönliche Note zu verleihen.

Jetzt aber leben wir in einem Post-Snowden-Zeitalter, das von großen Konzernen—Google, Amazon, Apple, Facebook—beherrscht wird, die durch Algorithmen bestimmen, welche Inhalte wir sehen und welche Meinungen wir uns dazu bilden können. Die Rezeption wird also stark gefiltert…als ich 1996 begonnen habe, das Internet zu nutzen, war es eine Open Source-Welt. Jetzt aber werden die Internetnutzer nicht mehr als verantwortungsvolle Bürger angesehen—sondern als potenzielle Verbraucher.

Die Tag Clouds Mauer bevor Tremblin sie 2010 übermalte

Wie ist Tag Clouds viral gegangen?

Das erste Mal ist Tag Clouds auf Name Writing- und Urban Intervention-Blogs wie Rebel Art und All City viral gegangen. Diese Seiten haben die Arbeit von Künstlern aufmerksam verfolgt und versucht, sie getreu der ursprünglichen Absicht zu verbreiten, da sie sich der Tatsache bewusst waren, dass die Erfahrung durch Dokumentation einen anderen Wert hat als die direkte Erfahrung.

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Doch dann kam das Clickbaiting.

Genau, die zweite Welle der Viralität kam über Reddit, als der Redditor 321Cheers die Bilder aus einem kürzlich in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikel einfach ohne Nennung des Autors oder Titels gepostet hat—das war am 23. Juli. Zuerst war ich ganz froh [über die Anonymität], weil sie [meine Arbeit] wieder auf die ursprüngliche Rezeption zurückgeführt hat—ein Mauerbild, an dem Fußgänger vorbeigehen, ist ja auch anonym und nicht direkt als Kunstwerk zu erkennen. Der Reddit-Post wurde innerhalb weniger Stunden 100.000 Mal gelesen und 500 Mal kommentiert, also begannen viele Clickbait-Blogs, darüber zu berichten, ohne jedoch die grundlegende journalistische Recherche durchzuführen, wie man vielleicht erwartet hätte.

Diese Clickbait-Blogs haben die Bedeutung von Tag Clouds komplett verändert.

Vor allem der des ersten Re-Bloggers, der seinen Artikel „Dieser Typ übermalt schlechte Graffitis und macht sie lesbar“ betitelte und damit meine einfache Geste, aus einem Haufen Graffiti-Tags Word Clouds zu machen, in ein Anti-Graffiti-Pamphlet verwandelte.

Die Bilder sind jetzt nicht wieder viral gegangen, weil die Qualität oder Bedeutung des Kunstwerks so geschätzt wird, sondern eher aufgrund der reduzierenden und Konsum-orientierten Perspektive, die in Posts auf Blogs wie Design You Trust verbreitet wird. Sie haben mich als Gesandten einer Anti-Graffiti-Bewegung dargestellt, obwohl meine Absicht das genaue Gegenteil war—ich bin für das Name-Writing, ich war früher selbst ein Writer.

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Tag Clouds 2011

Street Art ist heutzutage sehr beliebt, vor allem online—hat sie ihren subversiven Charakter verloren?

Ein Teil der aktuellen Straßenkunst, die man als globale Straßenkunst oder Neo-Wandmalerei bezeichnen könnte, wird heutzutage von Werbeagenturen als Machtinstrument benutzt. Es ist zur einvernehmlichen Form der weltweiten Kultur geworden, die größtenteils gegen das Interesse örtlicher Gemeinschaften und vor allem gegen die einzelnen Writer oder Künstler geht, die Probleme bekommen, weil sie ohne Erlaubnis ihre Meinung ausgedrückt haben. Brad Downey hat die Ironie dieser Situation in einer seiner Interventionen 2015 in Rom passend zum Ausdruck gebracht, und zwar mit dem Werk Fiscal Shifts and Problem Solving as Mural—er sollte eine Seite der Außenfassade eines großen Wohnblocks verschönern und hat das dafür vorgesehene Budget stattdessen dafür genutzt, die kleinen Alltagsprobleme der in dem Gebäude lebenden Bewohner zu lösen.

Tag Clouds 2012

Du hast dich selbst der Techniken der Straßenkunst auf subversive Weise bedient—wie beispielsweise in deinem aktuelleren Werk Liberté Égalité Soldes.

Liberté Égalité Soldes ist der Werbeslogan für Cuisinella [ein französisches Kücheneinrichtungs-Geschäft], der im Januar 2015 auf französischen Werbetafeln zu sehen war—also ungefähr zur Zeit des Anschlags auf die Redaktion von Charlie Hebdo—und vom französischen Nationalmotto inspiriert wurde. Der Werbeslogan wurde aber auch von einem subversiven Graffiti von Mai 1968 inspiriert, das überall in Frankreich an den Wänden zu sehen war, und diesen Geist nutzen die Werbenden. Ich finde das angesichts der Gesetze zur Massenüberwachung und des aktuellen „Ausnahmezustands“ in Frankreich, der es Polizei und Geheimdiensten erlaubt, [auch außerhalb ihrer Zuständigkeitsbereiche] zu handeln, empörend. Für mich hat es also Sinn gemacht, den Slogan zu malen und ihm eine kritische Bedeutung zu verleihen: die französische Regierung bietet all ihre historischen Werte, gesellschaftlichen Fortschritte und die persönliche Freiheit zum Verkauf an.

Du bezeichnest dich selbst nicht als Straßenkünstler—warum?

Persönlich sehe ich mich als Künstler, der manchmal Aktionen und Interventionen in Stadtgebieten durchführt und manchmal Kunstwerke in Räumen, die sich ausdrücklich der Kunst widmen, erschafft—manchmal aber auch auf Online-Platfformen wie meinem Twitter-Account @twittOEuvres, der ein eigenes Kunstwerk in Textform ist. Meine Arbeit wird also immer von ihrer Umgebung eingerahmt. Diese Art ist direkt in der Avantgarde-Bewegung verwurzelt, bei der das Ziel immer ist, über die Definitionen der Kunst und über die Kunst selbst hinauszugehen. Ich habe mich also nie nur auf Graffitis konzentriert, obwohl ich zugeben muss, dass ich sehr gerne mit den Regeln des Name-Writing spiele, vor allem in dieser komplexen Zeit, in der Straßenkunst dank digitaler Technologien und der Tatsache, dass jeder ein Smartphone besitzt, sowohl auf den Straßen als auch im Internet erlebt werden kann.

Hier erfahrt ihr mehr über Mathieu Tremblins Arbeiten.